18

 

„Ich hab ihn gefunden! Komm schon. Er ist im westlichen Teil des Gartens.“

Ich sah von den Runensteinen auf, die vor mir verstreut auf dem Wurftuch lagen, das ich mir eben gekauft hatte, und warf Roxy einen vielsagenden Blick zu. „Dir ist vielleicht die Schlange von Menschen entgangen, die hier in der Gegend herumsteht, aber ich bin im Moment ziemlich beschäftigt, Rox.“

Obwohl wir schon ein paar Stunden, bevor das eigentliche Festival beginnen sollte, angekommen waren, hatte Dominic dafür gesorgt, dass die beliebteren Attraktionen des Gothic-Markts frühzeitig auf dem Gelände des Drahaner Schlosses aufgebaut worden waren und geöffnet hatten. Das schloss den Tarotstand ein, den Runenstand, die Aurafotografie und eine Bühne, die man für Dominics großen Auftritt aufgebaut hatte. Also war ich pausenlos mit meinen Runensteinen zugange, seit wir vor Kurzem eingetroffen waren.

„Du hast mir gesagt, ich soll Christian finden, also habe ich ihn gefunden.“

„Mist.“ Ich lächelte die Frau, die gerade vor mir saß, beruhigend an, bevor ich mich wieder Roxy zuwandte. „Tu mir einen Gefallen und such Renée. Sie hat gesagt, sie würde mich vertreten, wenn ich mal eine Pause brauche.“

Roxy flitzte davon, um Arielles Freundin zu finden, während ich mich bemühte, so viele Deutungen hinter mich zu bringen, wie ich nur konnte, bevor sie wieder zurückkam.

„Ich bin hierin nicht sehr gut“, vertraute Renée mir in atemlosen Französisch an, als sie ihren hochschwangeren Körper auf den Stuhl manövrierte, den ich soeben für sie frei gemacht hatte. „Aber ich werde mein Bestes geben.“

„Es dauert nicht lange“, versprach ich ihr. „Ich weiß ja, dass du Arielle bei den Tarotkarten hilfst.“

Ich gab ihr die Hämatit-Steine, die Arielle gehörten, versicherte ihr erneut, dass ich bald wieder zurück sein würde, und machte mich auf den Weg, um endlich mit Christian zu reden. Unterwegs traf ich Raphael und Inspektor Bartos. Sie waren so sehr in ihre Unterhaltung vertieft, dass sie mich gar nicht bemerkten, als ich auf sie zukam.

„... der Autopsiebericht wird das bestätigen“, sagte Raphael gerade.

„Unglücklicherweise wurde die Autopsie noch nicht beendet“, erwiderte Inspektor Bartos, den Blick auf die Menschenmenge gerichtet. Mir war schon aufgefallen, dass sich etliche seiner Leute unter die Besucher des Festivals gemischt hatten; dazu kam eine ungewöhnlich hohe Zahl uniformierter Polizisten.

Ich nahm an, dass sie nicht nur hier waren, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, sondern auch, um Milos festzunehmen, falls er wieder durchdrehen sollte.

Das heißt, wenn sie nicht hier waren, um sich Raphael zu schnappen. „Dies ist nicht Lyon, Mr St.John. Uns stehen leider keine vergleichbaren Möglichkeiten zur Verfügung. Und was Ihren Vorschlag angeht ... ah, Miss Randall.“

Inspektor Bartos und Raphael drehten sich beide um und sahen mich an.

Keiner von ihnen wirkte sonderlich glücklich über das, was er sah. Ich schenkte dem Inspektor ein breites Lächeln und hakte mich bei Raphael ein, da sich mir langsam ein Verdacht aufzudrängen begann.

„Guten Abend, Inspektor. Tut mir leid, wenn ich Ihre Unterhaltung unterbreche. Es klang wirklich faszinierend. Möchten Sie sie jetzt zufällig fortsetzen?“

Beide Männer starrten mich nur an.

„Nicht? Wie schade. Raphael, wenn ich dich bitte mal kurz sprechen dürfte.“

Ich zerrte an seinem Arm, aber er blieb einfach stehen und musterte mich argwöhnisch. „Weswegen?“

„Christian“, zischte ich, wobei ich nicht aufhörte, Inspektor Bartos anzulächeln. Sein Schnurrbart wirkte ziemlich unglücklich angesichts meiner Gegenwart. „Er ist im westlichen Garten.“

„Ich weiß, wo er ist.“

Ich hörte auf der Stelle damit auf, an seinem Arm zu zerren. „Woher weißt du das?“

Raphaels Mundwinkel zuckten. „Baby, ich habe dir doch gesagt, dass ich es nicht zulassen werde, dass du weiterhin Detektiv spielst.“

„Du widerlicher, arroganter Kerl!“ Ich begriff sofort, was er mir damit sagen wollte. „Du lässt Christian beschatten? Wen noch, Raphael? Milos, hoffentlich, aber was ist mit Dominic? Wieso nicht auch ihn? Warum denn nicht auch noch Arielle, Roxy und mich, wenn du schon mal dabei bist? So ein Mist!“

In seinem Gesicht breitete sich ein vertrauter Ausdruck der Verzweiflung aus.

„Joy, ich habe dir das doch alles schon einmal erklärt, aber ich wiederhole es gerne noch mal, wenn die Chance besteht, dass du dann auf mich hörst und tust, was ich dir sage. Du wirst nicht weiter herumschnüffeln, um herauszufinden, wer Tanya ermordet hat.“

„Ich muss gar nicht herumschnüffeln. Ich weiß, wer Tanya ermordet hat: Milos“, verriet ich Inspektor Bartos, nur für den Fall, dass Raphael dies bislang versäumt hatte. Er zog sein Notizbuch hervor und schrieb etwas hinein.

„Du wirst mich nicht davon überzeugen können, dass Christian Dante ein Vampir ist.“

„Einer der Dunklen“, erklärte ich Inspektor Bartos.

„Das ist so eine Art ungefährlicher Vampir, aber ich nehme an, das wissen Sie alles schon, da Sie ja von hier sind.“

Er leckte an der Bleistiftspitze und machte sich eine weitere Notiz.

„Und abgesehen davon“, fuhr Raphael fort, „wirst du heute Abend alles machen, was ich sage. Als Erstes einmal wirst du dich nicht von deinem Runentisch wegrühren.“

„Du bildest dir wirklich ein, du wärst der King of Currywurst, oder?“ Ich ärgerte mich maßlos über seine Arroganz. Er war vielleicht alles, was ich von einem Mann erwartete, aber das hieß noch lange nicht, dass ich seelenruhig dabei zusehen würde, wie er etwas Dummes tat, wenn es in meiner Macht stand, das zu verhindern.

„King ...“, erkundigte sich Inspektor Bartos, den Stift gezückt.

„... of Currywurst. Das ist ein Ausdruck, der bedeutet, dass Raphael sich einbildet, ich sei angesichts seines männlichen Charmes hilflos, was ziemlich lächerlich ist, weil ich nämlich gerade dabei bin, ihm seine jämmerliche Haut zu retten. Da fällt mir was ein - ich muss mich später noch mit Ihnen über einige falsche Vorstellungen unterhalten, die Sie sich möglicherweise von ihm gemacht haben.“

„Joy.“ Raphaels Stimme klang wie die eines Heiligen, dem man besonders schlimm zusetzte. „Geh jetzt zu deinem Tisch zurück.“

„Nein. Wenn du nicht mit mir zu Christian kommen willst, damit er dir endlich mal die Scheuklappen abreißt, die du trägst, dann gehe ich eben allein.“

„Das wirst du nicht.“

„Ach, wirklich? Und wie genau willst du mich davon abhalten? Willst du mich vielleicht verhaften lassen?“ „Wenn es sein muss.“

Ich sah zu Inspektor Bartos. Er lächelte. Ich glotzte ihn fassungslos an. „Das würden Sie nicht wagen!“

Jetzt lächelte auch noch sein Schnurrbart.

„Hahaha, ihr Jungs seid ja so witzig.“ Ich machte mich davon, und zwar so schnell ich konnte, wobei ich ihnen über meine Schulter hinweg noch rasch zurief: „Ich geh jetzt mal ein bisschen spazieren. Wir sehen uns dann später!“

Dann machte ich, dass ich wegkam, doch Raphaels sexy Lachen entging mir nicht. Ich glaubte natürlich nicht eine Sekunde lang, dass Inspektor Bartos mich tatsächlich verhaften lassen würde, nur weil Raphael das so wollte, nicht mal dann, wenn sich der Verdacht bestätigen sollte, der sich mir in Bezug auf die beiden immer mehr aufdrängte. Aber ich wollte Renée einfach nicht zu lange am Runentisch warten lassen.

Ich kam an Arielles Tisch vorbei, wo ich einen Augenblick lang stehen blieb, um zu sehen, wie es ihr ging, und ihr zu sagen, dass ich Renée so schnell wie möglich zurückschicken würde.

„Mir geht's gut, danke“, sagte sie mit einem dünnen Lächeln. Ihre Augen waren immer noch rot und geschwollen, aber alles in allem hielt sie sich wacker.

Ich wandte mich um, eilte durch die Menschen in der langen Schlange, die darauf warteten, sich die Karten legen zu lassen, und hätte um ein Haar Henri umgerannt.

„Tut mir leid, Henri, aber ich hab's eilig.“ Er murmelte eine Entschuldigung und trat hastig einen Schritt zurück, als ich mich wieder in die Menschenmenge stürzte. Ich war eigentlich auf dem Weg zum westlichen Garten, beschloss dann aber, einen kleinen Umweg zu machen. In diesem Moment entdeckte ich Dominic, der gerade die Hand einer drallen Frau besabberte, die in Netzstrümpfe und Latex gekleidet war und der aus einer falschen Wunde am Hals künstliches Blut lief. In Anbetracht der Umstände von Tanyas Tod wurde mir bei diesem Anblick ganz anders, aber ich schluckte meinen Widerwillen runter und winkte, um Dominics Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.

„Mon ange.“ Er schien leicht verlegen darüber zu sein, dass ich ihn dabei erwischt hatte, wie er eine andere Frau umgarnte. „Ich dachte, du bist jetzt gerade bei den Runen?“

„Ich mache nur eine kleine Pause. Renée vertritt mich. Ich wollte dir kurz Bescheid sagen, dass ich noch bis ungefähr neun Uhr am Runenstand bin und dann Schluss mache.“

Er lächelte und griff nach meiner Hand. Ich entzog sie ihm eiligst und drehte mich um, wobei ich prompt wieder mit Henri zusammenstieß.

„Entschuldigung, Henri. Ich schätze, jetzt steht's zwei zu null für mich, was?

Bin ich dir auf den Fuß getreten? Nein? Gut. Bis später.“

Dann trabte ich weiter, soweit man durch die gewaltigen Menschenmengen, die sich in dem gepflegten Park um Christians Schloss herum versammelt hatten, traben konnte. Ich lief um einen Irrgarten herum, merkte dann jedoch, dass ich in die falsche Richtung ging, bog um die nächste Ecke und lief weiter in Richtung Westen.

„Verdammt!“ Ich rieb mir die Nase, mit der ich soeben Henri gerammt hatte, der um dieselbe Ecke auf mich zugerannt kam. „Oh! Henri, kann es sein, dass du mich verfolgst?“

Henri, ein netter Kerl mit warmen, braunen Augen und einem eher schüchternen Lächeln, wirkte entsetzt. Er stammelte eine leise Entschuldigung, die ich brutal überging. „Sag Raphael, dass ich kein Kindermädchen brauche.“ Ich zischte an ihm vorbei, diesmal in die richtige Richtung auf den westlichen Garten zu. „Und hör auf damit, mich zu verfolgen!“

Er folgte mir trotzdem. Als ich stehen blieb und ihn herausfordernd anblickte, die Hände in die Hüften gestemmt, gestand er mir, dass er es nicht wagte, Raphaels Anordnungen zu ignorieren. „Er hat darauf bestanden, dass ich die ganze Zeit über bei dir bleiben muss, wenn du den Runentisch verlässt.“

Henri war ungefähr so groß wie ich, aber da er auf mich den Eindruck eines niedlichen kleinen Hundewelpen machte, verzichtete ich darauf, ihn zu verhauen. Außerdem war ich schließlich gar nicht wirklich sauer auf ihn; dieses Vergnügen war Raphael vorbehalten.

„Na gut“, sagte ich schließlich zu ihm. „Du kannst mit mir kommen, aber du mischst dich auf gar keinen Fall ein. Und wehe, du petzt Raphael, was ich mache.“

„Petzt?“

„Du kannst mit mir kommen, aber du darfst ihm nicht berichten, wo ich überall war und mit wem ich geredet habe, okay?“

„Okay.“ Er nickte, offensichtlich erleichtert.

Christian beaufsichtigte das Anschlagen einiger überdimensionaler Bierfässer, die in einer Art gemütlichem Biergarten aufgebaut worden waren. In einem mit einer Mauer umgebenen Garten hatte man lange Tische und Bänke aufgebaut. Da er ziemlich weit entfernt von der Hauptbühne lag, war es noch sehr ruhig ... im Augenblick. Sobald der Biergarten seine Pforten öffnete, würde es dort zweifellos genauso wild zugehen wie auf dem restlichen Gelände.

„Christian!“, brüllte ich quer durch den Garten und wedelte mit den Armen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen.

Einer seiner Angestellten, ein großer, bulliger Kerl mit einer üblen Narbe, die sich über die eine Seite seines Gesichts zog, versperrte den Eingang und wollte mich nicht reinlassen. Christian drehte sich um und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, dass er mich durchlassen sollte. Ich sagte zu Henri, er solle auf mich warten, schenkte dem Koloss am Tor ein strahlendes Lächeln und beeilte mich, an ihm vorbeizukommen. Dann lief ich zwischen den Tischreihen hindurch zu Christian, der gerade Anweisungen erteilte, wo die Fässer aufgestellt werden sollten. Um den Garten herum steckten überall brennende Fackeln in der Erde, was der ganzen Szene ein mittelalterliches Flair verlieh.

„Christian!“

Er wandte sich zu mir um, sein Gesicht so freundlich wie immer. Ich musterte ihn ein Weile sehr genau, suchte nach Anzeichen dafür, dass ihm etwas zugestoßen war, aber sein Blick war warm und das vertraute Lächeln umspielte seine Lippen.

„Geht es dir gut? Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht! Wo bist du denn gewesen?“

Seine Augenbrauen hoben sich in gespieltem Erstaunen. „So viel Leidenschaft! Ich war hier damit beschäftigt, das Anwesen für das Festival vorzubereiten.“

„Du weißt ganz genau, wovon ich rede!“ Ich versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter, dann ergriff ich seine Hand und zog ihn in eine einsame Ecke.

„Wo bist du letzte Nacht gewesen? Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, nachdem ... nachdem Tanyas Leiche entdeckt worden war. Du hast doch davon gehört, oder etwa nicht?“

Es gelang ihm, die Rollen zu tauschen, sodass jetzt er meine Hand hielt, und während er sie an seine Lippen hob und meine Finger küsste, blickte er mich unverwandt an. Man kann über die Emanzipation ja sagen, was man will, aber irgendwie war an dieser Handküsserei schon was dran, denn ich fühlte mich dadurch tief in meinem Inneren sehr weiblich.

„Du siehst heute Abend bezaubernd aus, meine Geliebte. Allerdings muss ich mich erdreisten, dich wissen zu lassen, dass ich es nicht schätze, wenn du deine Reize jedem anwesenden Mann präsentierst.“

Er griff nach meiner Rüschenbluse. Ich sah an mir hinunter. Der oberste Knopf, eine kleine, unechte Perle, fehlte, wodurch meine Bluse weit auseinanderklaffte und freie Sicht auf meinen Busen bis zum Rand meines ziemlich weit ausgeschnittenen BHs gewährte.

Ich raffte den Stoff eilig über meiner entblößten Haut zusammen. „Mist. Das muss wohl passiert sein, als ich mit Henri zusammengestoßen bin.“

Er lächelte und öffnete seine Hand. Darin lag eine sehr alt aussehende, goldene Brosche: ein Greif, der in seinem Schnabel einen großen roten Stein hielt.

„Du gestattest“, sagte er, schob meine Hände beiseite und steckte mir die Brosche an, sodass sie meine Bluse verschloss.

„Die ist wunderschön, Christian, vielen Dank. Ich werde gut darauf aufpassen.“

„Betrachte sie als das Geschenk eines Bewunderers.“

Ich hatte nicht vor, sie anzunehmen, da sie ziemlich wertvoll aussah, aber ich beschloss, sie am besten nach dem Festival zurückzugeben, wenn ich ihm meine Gefühle erklären konnte, ohne ihn zu verletzen.

„Danke schön, aber das erklärt immer noch nicht, warum du mir letzte Nacht nicht geantwortet hast.“

Ich blickte prüfend in seine abgründigen Augen.

„Meine Haushälterin hat mir berichtet, dass du angerufen hast“, antwortete er, wobei er trotz der offensichtlichen Ausflucht nicht mal mit der Wimper zuckte. „Leider war ich zu dieser Zeit nicht daheim.“

Ich sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an.

„Christian Johann Dante, du weißt sehr wohl, was ich meine, also verschon mich mit diesem ,Ich hab keine Ahnung, wovon du redest’-Quatsch.“ Ich legte ihm meine Hand aufs Handgelenk und drückte zu.

„Ich weiß, dass du mich gehört hast. Ich konnte dich hier draußen spüren. Warum hast du mir nicht geantwortet?“

Ich fühlte, wie er sich von mir entfernte, ohne dass er auch nur einen Muskel bewegte. „Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass dir diese Art der Kommunikation zuwider sei. Zudem schloss ich aus den Aktivitäten, die darauf folgten, dass du deine Intimsphäre meiner Gegenwart vorziehen würdest.“

Ich starrte ihn eine Sekunde lang mit weit offen stehendem Mund an, bevor ich merkte, was ich da tat.

„Du Mistkerl!“

Ich sagte die Worte so laut, dass sich seine Angestellten nach uns umdrehten.

„Das hast du absichtlich gemacht! Du wolltest, dass ich mir um dich Sorgen mache! Du wolltest, dass ich mir ausmale, wie du irgendwo krank oder verletzt daliegst. Du blöder, dämlicher ... MISTKERL!“

In seinen Mundwinkeln zuckte ein Lächeln. Das gab mir den Rest - ich sah rot.

„Pah!“, stieß ich vor lauter Frust aus und ließ ihn einfach stehen. Ich schimpfte vor mich hin - über Männer, die dumme Psychospielchen spielten - und dankte Gott, dass Raphael nicht so war. Er mochte ja hin und wieder etwas verschlossen sein, aber wenigstens sagte er mir, dass er mir nicht alles erzählte.

„Joy“, rief Christian mir hinterher. Ich ging ungerührt weiter. Er hakte sich bei mir ein und ging neben mir her. Ich weigerte mich, ihn auch nur anzusehen.

„Ich werde für meine Taten gar nicht erst um Verzeihung bitten, da ich nichts bedauern kann, was dich dazu veranlasst, mir deine geschätzte Aufmerksamkeit zu schenken, aber ich bereue es, dass ich dir Kummer bereitet habe.“

„Ich kann es einfach nicht fassen, dass du mich derartig benutzt hast“, sagte ich, ein wenig besänftigt.

Ich wusste nicht, ob es an der Magie seiner Stimme lag oder an der Aufrichtigkeit in seinen Augen, aber ich hörte immerhin damit auf, mir auszumalen, wie ich ihn folterte.

„Ich kann nicht glauben, dass du mich mit voller Absicht dazu gebracht hast, mir wegen dir eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang Sorgen zu machen.“ Plötzlich stutzte ich trotz meiner Wut wegen etwas, das er gesagt hatte. Ich blieb stehen und wandte mich zu ihm um.

„He! Was meinst du eigentlich mit ,Aktivitäten, die darauf folgten’? Woher weißt du überhaupt, was für Aktivitäten folgten? Hast du Raphael und mir nachspioniert?“

Er streichelte meinen Handrücken mit seinem Daumen. Ich zog meine Hand weg. Es gefiel mir besser, wenn Raphael das tat.

„Nein, ich habe euch nicht nachspioniert. Ich schätze dich viel zu sehr, um so etwas zu tun. Aber du bist meine Auserwählte und unsere Seelen sind miteinander verbunden. Ich kann es fühlen, wenn du starken Emotionen ausgesetzt bist, genauso wie du es bei mir fühlen kannst.“

Schamesröte zog sich von meinem Dekollete über meinen Hals bis in mein Gesicht hinauf, bis meine Wangen in puncto Temperatur jeder Bratpfanne Konkurrenz machen konnten.

„Du meinst, du weißt es, wenn ich ... wenn Raphael und ich ... du weißt das?“

Widerwille überzog sein Gesicht und etwas noch weitaus Unheilvolleres verdunkelte seine Augen.

„Ich kann dir versichern, dass ich es nicht genieße, meine Auserwählte in den Armen eines anderen zu wissen, aber die Antwort lautet: Ja, ich weiß es. So wie du es wüsstest, wenn ich dich betröge.“

Der Schmerz in seinen Augen war zu viel für mich. Ich nahm seine Hände und drückte sie an meine Brust. Als ich ansetzte, ihm zu antworten, vernahm ich ein Räuspern. Ich wandte den Kopf und starrte Henri wütend an.

„Geh doch einfach zu dem Reiterstandbild da drüben. Du kannst mich ja auch von dort im Auge behalten.“

Er schaute ziemlich störrisch drein, bis Christian ihm seinen Blick zuwandte. Daraufhin blinzelte Henri ein paarmal und entfernte sich schließlich rückwärts gehend von uns, wobei er mit einer ganzen Reihe von Leuten und einem Baum in einem großen Topf zusammenstieß und gegen einen kleinen eisernen Tisch prallte, auf dem die Kasse für den Biergarten stand. Er blieb allerdings nicht neben dem Standbild stehen, sondern ging einfach immer weiter. Vermutlich hatte ich nur noch ein paar Minuten, bevor er Raphael fand und alles ausplauderte.

Ich drückte Christians Hände, bis er mich endlich wieder ansah.

„Christian, es tut mir leid, wenn du es als Betrug meinerseits empfindest. Wirklich, aber wir haben das jetzt doch schon ein paarmal besprochen. Ich empfinde für dich nicht dasselbe wie du für mich. Ich kann einfach nicht die sein, die ich für dich sein soll, so einfach ist das.“

Seine Finger schlossen sich fester um meine. „Ich weiß, dass das grausam von mir ist, und selbstsüchtig und eigennützig, aber es ist die Wahrheit. Ich liebe Raphael, ich werde ihn immer lieben und nichts und niemand wird daran etwas ändern. Wenn du tatsächlich mitfühlst, was ich fühle, dann musst du doch wissen, dass ich dir da nichts vormache.“

„Ich weiß, dass er dich verhext hat, ja. Du bist von ihm fasziniert und er erregt dich sexuell auf eine Art, wie ich es nicht vermag, aber es ist offensichtlich, dass du tief in deinem Inneren die Wahrheit kennst, da ihr den letzten Schritt der Vereinigung nicht vollzogen habt.“

Die Schamesröte, die gerade abzuklingen begonnen hatte, stieg von Neuem in mir hoch und wurde noch heftiger, als er darüber sprach, wie anziehend Raphael auf mich wirkte.

„Ich spüre deine Emotionen, Geliebte, fühle die Tiefe deiner Leidenschaft und weiß, dass deren Quelle niemand anders als ich sein kann. Du bist meine Auserwählte. Und weil ich dies weiß und mir sicher bin, dass du am Ende mir gehören wirst, gewähre ich dir die Zeit, dich von der Zuneigung zu befreien, die du für St. John empfindest.“ Seine Augen waren so kalt und hart wie die Hämatite, die ich vorhin Renée gegeben hatte. „Es war nicht leicht für mich, aber meine Überzeugung, dass du die Wahrheit erkennen wirst, ist der einzige Grund dafür, dass ich es einer andere Person gestatte, dich zu besitzen.“

Rückblickend erkenne ich, dass mir an diesem Tag wohl einfach schon zu viele Männer vorschreiben wollten, was ich tun und lassen sollte. Es gab ansonsten keine vernünftige Erklärung für das, was als Nächstes geschah.

„Weißt du was? Dieses ,Ich gestatte es dir'-Machogehabe fängt langsam wirklich an, mich zu nerven. Ich bin doch nichts, was man besitzen kann, Christian. Ich habe einen Verstand. Ich kann eigene Entscheidungen treffen. Und das habe ich getan! Also, ich kann dich wirklich gut leiden und würde dich gerne zu meinen Freunden zählen. Außerdem habe ich versprochen, dir bei der Suche nach deiner Auserwählten zu helfen“, ich hielt eine Hand hoch, um den Einwand abzuschmettern, den er offensichtlich gerade vorbringen wollte, „schon gut, deine andere Auserwählte. Ich weiß, du hältst das für unmöglich, aber wieso sollte es denn eigentlich nicht zwei Frauen geben, die für dich die Richtige sein könnten? Zum einen vielleicht mich, aber bei mir ist irgendwas schiefgelaufen und ich bin ganz furchtbar in Raphael verliebt statt in dich, und dann noch irgendeine andere arme Frau irgendwo da draußen, die deine Seelengefährtin ist und noch nichts davon weiß. Trotzdem, wie ich schon sagte, ich würde gerne mit dir befreundet bleiben, aber ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, wenn du mir noch ein einziges Mal erzählst, was Euer Hochwohlgeboren mir zu tun gestatten, dann kriegst du von mir eins auf die Nase.“

Seine Augen funkelten mich ungefähr drei Sekunden lang gefährlich an, bevor ich unversehens gegen seine Brust geschleudert wurde. Seine Arme umschlossen mich mit eisernem Griff. All meine Gedanken waren von seiner Wut erfüllt, seinem Verlangen, mich zu beherrschen und seinem Willen zu unterwerfen. Ich weiß ganz ehrlich nicht, was passiert wäre, wenn er mir die andere Seite seiner Pein gezeigt hätte: das verzweifelte Verlangen nach Liebe und die unerträgliche Einsamkeit, aber das tat er nicht. Stattdessen überschwemmte er mich mit seiner Überzeugung, dass er alles Recht der Welt hatte, die Kontrolle über mein Leben zu übernehmen.

„Du ... gehörst ... mir.“

Seine Stimme war wie flüssiges Metall, weich und wunderschön und fest entschlossen.

„Du wirst immer mir gehören.“

Dann machte er einen Riesenfehler. Er bedrängte mich mit seinen Gedanken, drängte mich zu sagen, was er hören wollte. Das war zu viel für mein zutiefst widerspenstiges Wesen: Ich stieß einen trotzigen Schlachtruf auf und ballte meine Hand zur Faust. Sein Kopf beugte sich vor, um mich zu küssen. Ich rammte ihm meinen Absatz mit voller Wucht auf den Fuß und beobachtete zufrieden, wie er bei diesem unerwarteten Akt des Widerstands zurückwich. In einer einzigen Bewegung hob ich meinen Fuß wieder und rammte ihm das Knie in den Unterleib. Dann holte ich aus und versetzte ihm einen Fausthieb auf die Nase, als er sich vor Schmerz krümmte.

„Mach das ja nie wieder!“, schrie ich ihn an, während er zusammenbrach.

„Meine Gedanken gehören nur mir allein! Und du hast nicht das geringste Recht, mich zu irgendetwas zu zwingen!“

Mit diesen Worten stürmte ich wutentbrannt von dannen, wobei ich die entsetzten Gesichter seiner Angestellten ignorierte, die fassungslos zusahen, wie sich ihr Arbeitgeber auf dem Boden krümmte und wand. Ich rieb mir die Fingerknöchel und war ausgesprochen zufrieden mit mir. Bis ich mich daran erinnerte, dass ich ja eigentlich gekommen war, weil Christian für mich in Milos' Gedanken lesen sollte.

„Ach, zur Hölle!“, knurrte ich, sehr zum Entsetzen eines weißhaarigen alten Mannes, der den Arm voller Tischdecken hatte.

„Tut mir leid“, sagte ich rasch zu ihm und machte eine Kehrtwendung. Ich ging zurück zum Ort des Geschehens, wo der große, starke Kerl Christian gerade wieder auf die Beine half. Der Kerl sah aus, als ob er mir Ärger machen wollte, bis ich ihm einen bösen Blick zuwarf und er so weit zurücktrat, dass ich Christian sehen konnte. Er konnte offensichtlich wieder halbwegs gerade stehen, war aber noch weit von der eleganten Haltung entfernt, die ihn sonst auszeichnete.

„Hast du vor, mich noch einmal zu schlagen?“, fragte er. Seine sonst so geschmeidige Stimme klang rau. „Wenn das deine Absicht ist, gestatte mir doch bitte zunächst einmal, mein Personal aus dem Garten zu schicken. Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, dass sie Zeugen davon werden, wie du mich wiederholt in die Knie zwingst.“

„Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich geschlagen habe. Und dir auf den Fuß getreten bin. Und das mit dem Knie. Ich hoffe nur, es ist alles in Ordnung da unten.“

Wir ließen unsere Blicke gleichzeitig zu dem misshandelten Körperteil wandern. Seine Hand zuckte, so als ob es ihn drängte, sich lieber zu vergewissern, doch stattdessen richtete er sich auf und befahl den Umstehenden mit einer Handbewegung, sich zu entfernen. „Ich nehme deine Entschuldigung an. Ich fordere allerdings, dass du mir in Zukunft eine Vorwarnung über deine Absicht, mich zu schlagen, zukommen lässt, wenn du gegen eine meiner Handlungen Einwände hast. Das war gerade eine Erfahrung, die ich nicht noch einmal wiederholen möchte.“

Ich hob eine Augenbraue. Darin war ich mittlerweile richtig gut, nachdem ich den Meister des Augenbrauenspiels so oft hatte beobachten dürfen.

„Soll das etwa heißen, dass dies das erste Mal war, dass du Prügel bezogen hast?“ Ich senkte meine Stimme, damit niemand sonst mich hören konnte. Ich hatte keine Ahnung, ob seine Angestellten wussten, was er war, oder nicht, aber falls nicht, hatte ich bestimmt nicht vor, es auszuplaudern.

„Du meine Güte, du bist immerhin fast neunhundert Jahre alt.

Willst du damit sagen, dass dir in all der Zeit noch nie jemand ein paar auf die Nase gehauen hat?“

Er hielt seine dunklen Augen starr auf mich gerichtet. „Es gab ein oder zwei Versuche.“ Die implizierte Drohung in seiner Stimme war eindeutig eine Warnung.

„Du hast zugelassen, dass ich dich schlage.“ Ich beschloss, die Warnung zu ignorieren. „Ich weiß, über welche Macht du verfügst, Christian. Du hättest mich an Ort und Stelle zerquetschen können. Oder aber mich zumindest davon abhalten können, dich zu treten und auf die Nase zu boxen, aber das hast du nicht getan. Wieso nicht?“

„Du bist meine Geliebte“, sagte er. „Ich kann dir nicht wehtun. Wenn es dein Wunsch ist, mich zu verletzen, muss ich es erdulden.“

„Aber ich habe dir wehgetan“, wandte ich ein. „Gilt diese ganze Sache von wegen Seelenverwandtschaft und so denn nicht für beide Seiten? Wenn ich wirklich deine Auserwählte wäre, sollte es mir dann nicht auch unmöglich sein, dir etwas anzutun?“

Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem ironischen Lächeln, während er vorsichtig seine Nase abtastete. „Das hatte ich zumindest immer angenommen.“

Ich lächelte und schob seine Hand behutsam beiseite, um seinen Nasenrücken abzutasten. „Immerhin ist nichts gebrochen, nur dein Stolz wurde verletzt. Und das tut mir auch wirklich leid. Wenn es dich aber vielleicht dazu gebracht hat, noch einmal zu überdenken, was ich für dich bin, dann hast du wenigstens nicht umsonst gelitten.“

Er warf mir einen seiner Märtyrerblicke zu.

„Ich schätze, ich stelle unsere Freundschaft gerade ziemlich auf die Probe“, fügte ich hinzu. Ich zog ein Papiertaschentuch hervor und tupfte ein paar Tropfen Blut ab, die aus seiner Nase kamen. Er stand vollkommen still, aber seine Pupillen waren geweitet, seine Augen schwarz vor Anspannung. Ich trat zurück und brachte so ein bisschen Abstand zwischen uns.

 „Ich wollte dich eigentlich um einen Gefallen bitten. Wenn du mich noch nicht endgültig von deiner Freundesliste gestrichen hast, würde ich dich gerne darum bitten, mir bei einem kleinen Problem mit einem der Leute vom Gothic-Markt zu helfen.“

Er betrachtete mich einen Augenblick lang schweigend, dann erteilte er kurz und knapp seinem Personal ein paar Befehle und hielt mir seinen Arm hin. Ich hakte mich bei ihm ein und wir spazierten zusammen aus der Zufluchtsstätte hinaus, die der Garten vorübergehend für uns gewesen war, zurück in den Lärm, die Geschäftigkeit und den allgemeinen Wahnsinn des Halloween-Festivals.

„Warum machst du das alles eigentlich Jahr für Jahr?“, fragte ich ihn und vergaß meine Bitte für einen Moment. „Es sieht so aus, als ob das jede Menge Arbeit für dich und deine Angestellten bedeutet.“

„Arbeit?“ Er blickte auf das Meer von Gesichtern - Menschen in allen möglichen Kostümen, Gruftis und Nicht-Gruftis, Familien, Teenager, Erwachsene, alle lachten und aßen und tanzten - eine Menschenmenge, deren Schatten über die weißen Wände von Schloss Drahany flimmerten und flirrten. „Das ist keine Arbeit. Ich tue dies, weil es mir erlaubt, für einen winzigen Augenblick zu glauben, ich sei eins mit der Menschheit.“ Sein Blick kehrte zu mir zurück. „Nur weil ich bin, wer ich bin, bedeutet das noch lange nicht, dass ich die Gesellschaft der Menschen scheue. Ganz im Gegenteil, ich genieße sie.“

Bei dieser Bemerkung starrte ich ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

Er lächelte und beugte sich zu mir. „Und nicht immer nur zum Abendessen“, flüsterte er mir zu.

Er lachte über meinen Gesichtsausdruck und geleitete mich weiter durch die Menschenmenge.

„Ahm“, sagte ich, während ich versuchte, die Frage zu verdrängen, an wem er sich wohl in der vergangenen Nacht gelabt haben mochte, „ist das auch der Grund dafür, dass du Bücher schreibst?“

Er nickte.

„Ich bin davon ausgegangen, dass die Romane dazu dienen sollen, deine Auserwählte zu finden.“

Er lachte erneut. „Die Bücher haben dich hierhergeführt, oder vielleicht nicht?“

„Ja, aber ich bin nicht deine Auserwählte.“

Sein Lächeln verlor ein bisschen an Intensität. „Ich schreibe, weil es mir Vergnügen bereitet, die Geschichte meines Volkes zu erzählen, und weil ich mir auf diese Weise ein Leben ausmalen kann, das mir bislang vorenthalten blieb.“

So viel zu dem Plan, ihm ein schlechtes Gewissen einzureden! Ich wechselte rasch das Thema. „Was deine Hilfe angeht...“

„Selbstverständlich stehe ich dir zu Diensten. Das bin ich dir schuldig.“

Ich blieb stehen und wandte ihm mein Gesicht zu, ohne darauf zu achten, dass wir den Verkehr aufhielten. „Ich sollte dir besser gleich verraten, dass ich das nur mache, um Raphael zu helfen. Ich möchte, dass du meine Hintergedanken kennst. Denn ich will nicht, dass du das Gefühl hast, benutzt zu werden“, sagte ich mit besonderer Betonung auf den letzten Wörtern. „Oder ausgenutzt. Oder manipuliert. Oder ...“

Er hielt die Hand hoch. „Ich verstehe, was du meinst. Was genau soll ich denn tun, um St. John zu helfen?“

Ich holte tief Luft und zählte bis fünf. „Ich möchte, dass du den Beweis erbringst, dass Milos Tanya getötet hat.“

Seine Augen wanderten träge über mein Gesicht.

„Ich bin überrascht, dass St. John es dir gestattet, ihm bei der Suche nach dem Mörder zu helfen. Trotz aller offensichtlichen Differenzen zwischen uns muss ich ihm doch leider in einer Sache beipflichten, und das betrifft das Thema deiner Sicherheit. Ich kann kaum glauben, dass er dich um Hilfe gebeten hat bei der Suche nach Beweisen zur Identität des Mörders.“

„Das liegt daran, dass ich nichts dergleichen getan habe.“

Ich drehte mich nicht um. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, was für ein Gesicht Raphael machte.

Allerdings betrachtete ich seinen Schatten, während ich nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

„Verräter“, zischte ich Henri zu.

„Er ist nicht derjenige, der sich meinen Anweisungen widersetzt hat.“

Bei diesen Worten drehte ich mich nun doch um, die Hände in die Hüften gestemmt, meine Lippen vor Wut aufeinandergepresst.

„Seit wann ist Gott tot und wieso solltest du sein Nachfolger sein?“ Ich nahm eine meiner Hände lange genug von meiner Hüfte, um ihn gegen die Brust zu stupsen. „Ich nehme von dir keinerlei Anweisungen entgegen. Du hast kein Recht, mir Anweisungen zu geben, und du hast kein Recht, mir meine Handlungen vorzuschreiben. Kapiert?“

Raphael seufzte und hielt meinen Finger fest, mit dem ich ihn immer noch in die Brust piekste.

„Du willst also unbedingt, dass wir das auf die harte Tour machen, wie? Du hast vor, dich weiterhin stur und leichtsinnig aufzuführen und mich dazu zu zwingen, härtere Maßnahmen zu ergreifen, um dich in Sicherheit zu bringen, stimmt das?“

Mein Blut kochte. Ich habe nichts dagegen, angebetet und begehrt und beschützt zu werden, aber Raphael - genau wie Christian - trieb es eindeutig zu weit.

„Wir haben hier wohl einen akuten Fall von Alphamännchenwahnsinn, auch unter der Bezeichnung ,männliche Herrschsucht’ bekannt“, verkündete ich und warf Raphael einen bitterbösen Blick zu.

Er hob eine geschmeidige Augenbraue, wie um zu fragen: Wer? Ich?.

„Wisst ihr was? Ich habe mich plötzlich und unerwartet in ein Alphaweibchen verwandelt und das heißt, dass ich mir so einen Mist von euch nicht mehr länger gefallen lassen muss. Von mir aus könnt ihr ruhig die ganze Nacht hier stehen und euch auf die Brust trommeln, aber ich werde jetzt erst einmal ein paar Runen deuten, und dann schnappe ich mir Milos und bringe ihn dazu, mit der Wahrheit rauszurücken, ganz egal, wie. Gentlemen, Elvis hat das Gebäude verlassen.“

Ich hatte vor, nach diesem unglaublich coolen Spruch davonzustolzieren, aber Raphael verdarb mir meinen Abgang. Er schnappte sich den Schal, den ich mir um die Taille gebunden hatte und wickelte ihn sich ein paarmal um die Hand, sodass ich nicht wegkam. Ich schlug ihn auf den Arm, und als das nichts nutzte, begann ich an dem Knoten zu zerren, mit dem ich den Schal festgebunden hatte.

„Ich gehe mal davon aus, dass wir unsere persönlichen Differenzen kurz vergessen und ich in dieser Angelegenheit auf deine Unterstützung zählen kann?“, erkundigte sich Raphael bei Christian.

Ich knurrte sowohl ihn als auch den verflixten Knoten wütend an und bückte mich, um den Stoff mit meinen Zähnen zu attackieren.

„Joys Sicherheit ist für mich das Allerwichtigste“, antwortete Christian.

„Angesichts der Umstände hast du meine volle Unterstützung. Ich kann dir ein oder zwei meiner Angestellten zur Verfügung stellen, wenn nötig, und auch ich selbst stehe bereit, sobald ich meinen Pflichten als Gastgeber nachgekommen bin.“

„Diesen verdammten Schal ziehe ich nie, nie wieder an!“

„Vielen Dank. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen.“

Raphael verbeugte sich kurz und knapp vor Christian.

Da kam Roxy angerannt, vollkommen außer Atem und mit roten Wangen.

„Da bist du ja! Renée wartet auf dich! Sie muss mal für kleine Mädchen. Los jetzt, los, deinen Schal kannst du auch später noch aufessen.“ Sie packte mich am Handgelenk und zerrte mich mit sich.

„Ich freue mich, wenn ich helfen kann.“ Christian verbeugte sich nun genauso höflich vor Raphael.

„Ich kann euch alle beide nicht mehr leiden“, lautete mein Kommentar dazu.

Raphael lächelte nur und ließ endlich meinen Schal los. Dafür packte er mich am einen Arm und Christian am anderen. Roxy bahnte uns einen Weg durch die Menge wie eine Art gestörtes Blumenmädchen und ich wurde zurück an meinen Runentisch verschleppt.

Renée hievte sich erleichtert auf die Beine, als sie mich näher kommen sah, und winkte mir vielsagend zu, während sie nun auf das nächstgelegene Toilettenhäuschen zuwatschelte.

Raphael legte mir die Hand auf die Schulter und drückte mich auf den Stuhl.

Ich biss ihn in den Daumen.

„Hier bleibst du, bis ich dich holen komme“, befahl er mir.

„Hiermit wird dir die offizielle Anerkennung durch die Republik Joy entzogen“, informierte ich ihn von oben herab. „Unsere diplomatischen Beziehungen sind beendet.“

„Das solltest du schleunigst rückgängig machen“, knurrte er, „oder der Staat Raphael ist gezwungen, deine Republik zum Protektorat zu erklären.“

„Diktator“, murmelte ich.

„Auf Lebenszeit“, stimmte er zu. „Bleib hier.“

„Das klingt ja so, als ob irgendetwas vor sich geht“, sagte ich argwöhnisch.

„Du tust wahrscheinlich genau das, was du mir verboten hast. Du willst doch nicht zufällig den Beweis liefern, dass Milos der Mörder ist, um deinen Namen bei Bartos reinzuwaschen, oder? Na klar! Du hast vor, ihn dir zu schnappen! Mensch, dabei kann ich dir doch helfen! Ich bin doch diejenige, die dir hilft, wenn du in der Klemme sitzt! Wir haben schließlich den sechsten Schritt vollzogen, also verlange ich, dass du mich um Hilfe bittest!“

Seine wunderbaren Bernsteinaugen glühten von innen heraus. „Als Alphaweibchen bist du wirklich überzeugend. Ich vermute, unsere Kinder werden uns später mal Albträume verursachen. Bleib ... hier!“

Er drückte noch einmal warnend meine Schulter und mit einem Blick, der in mir nicht den geringsten Zweifel aufkommen ließ, dass er jedes Wort genau so meinte, wie er es gesagt hatte, gab er Christian einen Wink. Die beiden standen ungefähr eine Minute zusammen und redeten, dann trennten sie sich und gingen in verschiedene Richtungen davon.

„Das ist ja so romantisch“, seufzte Roxy und blickte ihnen nach. „Erbitterte Feinde, die dieselbe Frau begehren, und die Liebe zu dir vereint sie schließlich.“

„Von wegen romantisch!“, schnauzte ich sie an. Ich hätte durchaus noch mehr zu diesem Thema zu sagen gehabt, aber die Frau, die als Nächste an der Reihe war, hustete höflich. Ich entschuldigte mich für die Verzögerung, begann mit der üblichen Litanei von wegen „Denken Sie an eine Frage“ und nutzte den kurzen Moment ihrer Unentschlossenheit, um Roxy etwas zuzuflüstern.

„Du musst mir später helfen. Dumm und Dümmer machen ganz sicher einen Aufstand, wenn ich versuche, allein mit Milos zu reden, also musst du mir dabei helfen, ihnen zu entkommen.“

„Mit ihm reden? Warum willst du denn mit ihm reden? Er ist ein Mörder! Ich muss schon sagen, was das angeht, bin ich mit den Jungs einer Meinung, Joy. Soll die Polizei das doch erledigen. Oder Raphael. Wenn er ein Spion ist, dann kennt er sich doch mit Wahrheitsdrogen und so 'nem Zeug aus. Oder Christian soll seine Gedanken mit ihm verschmelzen, aber ich wüsste wirklich nicht, warum du allein mit ihm reden solltest.“

„Raphael erkennt die Wahrheit nicht, er ist einfach zu stur. Er braucht meine Hilfe, ob ihm das nun klar ist oder nicht. Außerdem werde ich nicht ganz allein sein“, sagte ich und schüttelte die Runensteine in ihrem Säckchen. „Du wirst bei mir sein.“

Dazu konnte sie nicht mehr viel sagen, weil ich begonnen hatte, die Runensteine auszulegen und der Frau zu erzählen, was sie bedeuteten. Aber sie warf mir einen Blick zu, der versprach, dass sie sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit rächen würde.

Ich grinste zurück.

Manchmal ist Schweigen wahrhaftig Gold.

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